Die Drikung Kagyü Linie
Kurze Einführung in die Geschichte der Drikung-Kagyü-Linie des tibetischen Buddhismus
Die Kagyü-Linie
Die Linie der Kagyü (bka' brgyud) wird bisweilen auch die „Linie der mündlichen Unterweisungen“ genannt. Ihr Gründer war der Mahasiddha Tilopa (988–1069), der in Nordindien lebte. Es heißt, er habe eine direkte Übertragung von dem ursprünglichen Buddha Vajradhara erhalten. In dieser Hinsicht stammt die Kagyü-Linie von der Essenz, dem Urgrund der Wirklichkeit, ab und transzendiert somit Zeit und Raum. Aus einer anderen Perspektive betrachtet, hatte Tilopa auch menschliche Lehrer, von denen er vier besondere Übertragungen erhielt: Die vier mündlichen Unterweisungen (bka' babs bzi), deren Linienhalter er wurde. Bezieht man Tilopas Übertragung unmittelbar auf Vajradhara, wird sie die „direkte Übertragung“ genannt; bezieht man sie jedoch auf seine menschlichen Lehrer, nennt man sie die „indirekte Übertragung“.
Diese Übertragungen bilden das Kernstück aller Lehren und geheimen Unterweisungen der Kagyü-Linie, die von Generation zu Generation in ununterbrochener Linie vom Meister auf seine Schüler weitergegeben wurden. Die vier mündlichen Unterweisungen beinhalten sowohl den Pfad der Methoden wie auch den Pfad der Befreiung.
Tilopa gab diese Lehren an seinen Schüler, den Mahasiddha Naropa (1016–1100), weiter. Systematisch zusammengestellt in den Sechs Yogas von Naropa, werden diese Meditations-Anweisungen als die wichtigsten Lehren der Kagyü-Linie angesehen. Naropa übertrug sein Wissen an Marpa Chökyi Lodrö (1012–1097), den großen Übersetzer, der von Tibet nach Indien reiste, um diese Lehren zu erhalten, und der nach seiner Rückkehr den Dharma in Tibet weit verbreitete.
Marpas wichtigster Schüler war der große Yogi Jetsün Milarepa (1040–1123). Seine Lebensgeschichte ist weit über Tibet hinaus bekannt: Die schwierige Kindheit aufgrund des frühen Todes seines Vaters, seine Rache an Onkel und Tante, die ihn betrogen hatten, und danach sein tiefes Bedauern, das zu dem aufrichtigen Wunsch führte, den Pfad des Dharma zu beschreiten. Seine Beharrlichkeit und die Bereitschaft, alle Umstände, denen er begegnete, zu erdulden, führten zu seiner tiefen Verwirklichung der wahren Natur der Wirklichkeit. Seine Belehrungen sind in den Tausend Vajra-Gesängen des Milarepa überliefert.
Milarepas Lehren wurden weitergeführt von Gampopa (1079–1153), der auch als Dagpo Lhaje – der Arzt von Dagpo – bekannt war. Dieser hatte zunächst in der Kadampa-Tradition einen systematischen, stufenweisen Pfad studiert. Später traf er Milarepa, praktizierte unter seiner Anleitung und erhielt und verwirklichte die wahre Bedeutung der gesamten Lehren. Seit jener Zeit ist die Linie auch als die Dagpo-Kagyü-Linie bekannt. Von Gampopa gingen die ersten Kagyü-Schulen aus: Karma Kagyü, Tselpa Kagyü, Barom Kagyü und Phagdru Kagyü.
Der Gründer der Phagdru-Kagyü-Linie ist Phagmodrupa Dorje Gyalpo (1170–1170), ein hervorragender Schüler von Gampopa. Seine eigene Linie starb als eigenständige religiöse Institution aus, doch seine Hauptschüler gründeten weitere Linien, von denen bis heute noch drei erhalten sind: Drikung Kagyü, Taklung Kagyü und Drukpa Kagyü.
Der Ursprung der Drikung-Kagyü-Linie
Nach Phagmodrupas Tod übernahm sein Herzenssohn, Kyobpa Jigten Sumgön (1143–1217), für drei Jahre den Phagdru-Thron im Kloster Densa Thil. Danach gründete er seine eigene Linie, indem er das Kloster Drikung Thil in der Gegend von Thil errichtete, so wie es Phagmodrupa vorhergesagt hatte.
Phagmodrupa hatte zahllose Schüler, doch Jigten Sumgön war ihm als sein Hauptschüler am nächsten. Phagmodrupa hatte prophezeit, dass ein Bodhisattva (Jigten Sumgön), der bereits die zehnte Stufe (bhumi) auf dem Bodhisattva-Pfad verwirklicht habe, die Lehren und ihren Segen weiterreichen werde. Jigten Sumgön erhielt sämtliche Lehren, die geheimen mündlichen Übertragungen, Erklärungen, Einweihungen und den Segen von Phagmodrupas höchsten Verwirklichungen. Und ebenso übertrug dann Jigten Sumgön die vollständigen Lehren an seinen Hauptschüler Gurawa Tsultrim Dorje (1154–1221).
Kyobpa Jigten Sumgön entstammte dem Kyura-Klan. Wie in vielen Schulen des tibetischen Buddhismus üblich, ernannte Jigten Sumgön einen Verwandten als seinen Nachfolger. So waren anfangs – mit Ausnahme von dreien – alle Drikung-Kagyü-Thronhalter Nachkommen eines männlichen Zweigs der Kyura-Familie, obgleich es in der Familie eigentlich keine festen Regeln für die Einsetzung der Nachfolger gab. In der Drikung-Tradition wurden die Gewalten von Beginn an geteilt: Die spirituelle Führung hatte der Denrab (gdan rabs), der Thronhalter, inne, während die weltlichen Angelegenheiten dem Gompa (sgom pa), einem weltlichen Verwalter, oblagen. Beide waren meistens Mitglieder der Kyura-Familie.
Lesen Sie auf der englischsprachigen Website www.drikung.org/drikung-kagyu-lineage mehr über die Tradition, das Leben von Jigten Sumgön und die weitere Geschichte der Drikung-Kagyü-Linie:
Die frühe Entwicklung der Drikung-Kagyü-Linie (1217–1400)
Die Zeit der Reformen (1400–1615)
Die Ära von Chetsang und Chungtsang Rinpoche (1615 bis heute)